Facetten der Großstadt von Thomas Kellner

Facetten der Großstadt

Anlässlich des 60. Todestages von August Sander präsentiert die Artgalerie Siegen ab dem 21. April 2024 bis zum 15. Juni 2024 mit Facetten der Großstadt Fotografien des Künstlers Thomas Kellner

Der Mensch im Fokus: Ein Abbild unserer Gesellschaft

Mit Facetten der Großstadt rückt Thomas Kellner den Menschen in den Fokus. Und obwohl er dabei durch Gegenstände, Kleidung und Umgebung Rückschlüsse auf die Lebensumstände und Persönlichkeiten seiner Modelle zulässt, stellt die Serie von 60 Porträts in ihrer Gesamtheit vor allem ein Abbild unserer Gesellschaft dar. Zwar repräsentieren Kellners Fotografien einzelne Personen samt ihrer Berufe, Freizeitaktivitäten oder Beziehungskonstellationen, doch bereits August Sander betonte, dass der Mensch ein „Ausdruck seiner Zeit“ ist und folglich weniger sich selbst als ein Zeitbild verkörpert. Gerade in der Fülle von Bildern tritt das Individuum zurück, sodass die Serie als Querschnitt durch die städtische Bevölkerung einen Eindruck von der Vielfalt gibt, der wir tagtäglich auf der Straße begegnen.

Anknüpfung an August Sander: Zeitbilder und Porträts

Mit den hier erstmals gezeigten Arbeiten knüpft der Künstler an August Sanders Menschen des 20. Jahrhunderts und Im Antlitz der Zeit an – Zusammenstellungen von Porträts nach einem Klassifizierungssystem, mit dem der Künstler die Gesellschaft nach eigenem Ermessen in Gruppen ordnete.

Regionale Trilogie: Siegen und das Siegerland im Fokus

Seit 2020 arbeitet Kellner an einer Trilogie zu regionalen künstlerischen Positionen. In drei Serien nimmt er seine Heimat, die Stadt Siegen, das Siegerland sowie Künstler:innen und regionale Bautypen ins Visier. Auf die Auseinandersetzung mit den sogenannten Becherhäusern und Kapellenschulen, wird mit Facetten der Großstadt eine fotohistorische Position einer Aktualisierung und Weiterentwicklung unterzogen. Mit Blick auf Sander fertigt Kellner Menschenbilder an. Dass er hier ebenfalls auf seine Heimatstadt Siegen zurückgreift, mag angesichts der regionalen Ausrichtung seiner Motive in den vorangegangenen Serien nicht verwundern.

Experimente mit Unschärfe: Identität und Individualität

Auch Porträts sind für den Künstler bereits bekanntes Terrain. In mehreren Arbeiten versuchte er den Menschen fotografisch einzufangen. So reagierte er beispielsweise mit Quicksnaps 1991-94 auf die Arbeiten von Thomas Ruff und spielte mit der Identifizierbarkeit von Personen. Entgegen der Konventionen fertigte Kellner unscharfe Bilder an. Die Identität der Porträtierten wurde dabei vollends untergraben. Knapp 30 Jahre später reflektiert er das fotografische Erbe Sanders. Auch hier arbeitet er mit Unschärfe und befragt die Identität und Individualität des Menschen. Mit seinen 60 Porträts zeichnet er im übertragenen Sinne ein Bild der Gegenwart, eine Zeitkapsel, die das Antlitz unserer Zeit visuell bewahrt. So sind Kellners Fotografien nicht nur ein Spiegel der aktuellen Gesellschaft, sondern verweisen auch auf eine Gegenwartsbezogenheit bei der künstlerischen Herangehensweise und fotografischen Umsetzung.

Fotografie als Spiegel der Gegenwart

Thomas Kellners Fotografien sind mehr als nur Porträts. Sie sind Momentaufnahmen unserer Zeit, die uns zum Nachdenken über die Gesellschaft anregen, in der wir leben. Sie spiegeln die Vielfalt der Menschen wider, ihre Hoffnungen und Träume, ihre Sorgen und Ängste.

Ausstellung in der Artgalerie Siegen

Thomas Kellner – Facetten der Großstadt
21. April bis 15. Juni 2024
Artgalerie, Siegen

Eröffnung am Sonntag, 21. April um 11.00 Uhr
sprach Chiara Manon Bohn

Facetten der Großstadt. Eine Hommage an August Sander, 21.04.2024
Chiara Manon Bohn

„August Sander hat eine Reihe von Köpfen zusammengestellt […]. ‚Sein Gesamtwerk ist aufgebaut in sieben Gruppen, die der bestehenden Gesellschaftsordnung entsprechen, und soll in etwa 45 Mappen zu je 12 Lichtbildern veröffentlicht werden.‘ Bisher liegt davon ein Auswahlband mit 60 Reproduktionen vor, die unerschöpflichen Stoff zur Betrachtung bieten. […] Der Autor ist an diese ungeheure Aufgabe nicht als Gelehrter herangetreten, [und] nicht von Sozialforschern beraten, sondern […] aus der unmittelbaren Beobachtung‘.“ So beschreibt der Philosoph und Kunst- und Kulturkritiker Walther Benjamin 1931 in seinem Aufsatz zur Geschichte der Fotografie, bei der Sander eine nicht unwesentliche Rolle zu spielt, das Werk des gleichnamigen Fotografen. In besagten 45 Mappen ordnete Sander seinerzeit seine Porträts – zum Großteil Auftragsarbeiten – in 7 Kategorien: Der Bauer, der Handwerker, die Frau, die Stände, die Künstler, die Großstadt und die letzten Menschen. Sander fungiert hier als Menschensammler, der Personen mit der Kamera einfängt. Das Zusammenstellen und Arrangieren von Fotografien nach einer selbstgewählten sozialen Schichtung seit der Mitte der 1920er Jahre gilt als Notiz von Zeitphänomen, Berufen, Sitten und Gebräuchen, die es heute zum Teil nicht mehr gibt. Ich erinnere dabei gerne an das Porträt des Kohlenträgers, insofern Ihnen das ein Begriff ist. So haben Sanders Gesellschaftsbilder heute einen historischen Wert für die Sozial- und Fotografiegeschichte, sind von kulturhistorischer und künstlerischer Relevanz.

Die Publikation Menschen des 20. Jahrhunderts, die heute nicht nur die von Benjamin erwähnten 540 Porträts zeigt, sondern knapp über 600, wurde trotz ihrer frühen Konzeption erst nach Sanders Tod veröffentlicht. Anders verhält es sich mit dem Buch Antlitz der Zeit. Sechzig Aufnahmen deutscher Menschen des 20. Jahrhunderts, das durchaus als Vorprojekt gewertet werden kann und sich 1929 an eine Ausstellung mit ebendiesen 60 Werken anschloss. Einer ähnlichen Maxime folgt auch Thomas Kellner, der wohlgemerkt zu Sanders 60. Todestag eine 60-teilige Porträtserie ausstellt, die nicht zuletzt im Titel direkt auf den Fotografen verweist: Facetten einer Großstadt. Eine Hommage an August Sander.

Der Bezug zu Sander entstand im Zuge der Konzeption einer Trilogie zu regionalen künstlerischen Positionen. In Anbetracht der Pandemie hat sich der Künstler, der für Fotografien von Architektur und bekannten Sehenswürdigkeiten öfters die Welt bereist, regionalen Themen zugewandt. In drei Werkserien rückt er seine Heimat, die Stadt Siegen und das Siegerland, in den Fokus und nimmt Kunstschaffende und regionale Bautypen ins Visier. Bernd und Hilla Becher begannen ihr Lebenswerk und ihre Typologie mit einer Serie zu Fachwerkhäusern in und um Siegen. Kellner griff diese Beziehung zwischen den Bechers – Bernd Becher wurde selbst in Siegen geboren – und der Stadt beziehungsweise den regionaltypischen Wohnbauten auf und wagte sich an die sogenannten Becherhäuser als Motiv heran. Mit den Kapellenschulen widmete er sich anschließend einem Gebäudetypus, den die Bechers zu ihrer Zeit ausließen, und positionierte sich damit selbst als Künstler der Region. Immerhin setzte er die steingewordene Fusion aus Gottesdienst und schulischem Unterricht nach seiner eigenen kubistischen Methode – der visuell analytischen Synthese – um. Sander, der aus Herdorf unweit von Siegen stammt und auch in dieser Region Fotografien anfertigte, bildet für Kellner einen weiteren Anknüpfungspunkt Porträts in Form eines Abbilds (s)einer Stadt zu schaffen. Die Idee einer Beschäftigung mit dem Porträt als drittem Teil einer im Lockdown entstandenen Konzeption entspricht dem tiefen Wunsch in Zeiten des Abstandhaltens mit Menschen zu arbeiten. Von einem misanthropischen Schnitt durch die Gesellschaft hin zu einem sozialen Projekt, das Gesellschaft für den Künstler buchstäblich greifbar macht.

Mit Facetten der Großstadt präsentiert Kellner einen Teil eines Großprojekts, das vorsieht in den nächsten 2 Jahren an die Dimension Sanders Menschen des 20. Jahrhunderts anzuknüpfen. Mit 1000 Bildern wird er 1% der Siegener Stadtbevölkerung porträtieren und damit einen visuellen Mikrozensus der Stadt schaffen. Von Beginn an widmet sich Kellner dabei einer Statistik der Geschäftsstelle Demografie der Stadt Siegen, die die Bevölkerung nach bestimmten Kriterien gliedert. So gibt es in Siegen beispielsweise 50,2% Frauen, 9,2% Kinder bis 10 Jahre oder 28,6% Personen mit Migrationshintergrund – eine prozentuelle Verteilung, der Kellner versucht bestmöglich zu entsprechen. Ein schwieriges Unterfangen, bedenkt man weitere Spezifikationen wie Bildungsstand oder Krankheiten, über die Menschen nach Kellner nur allzu gerne Stillschweigen bewahren. Indem sich der Künstler von Anfang an einer statistischen Größe verschreibt und zumindest versucht repräsentativ den Prozentsätzen zu entsprechen – von Abweichungen muss bei der Dimension des Projekts allerdings ausgegangen werden – wohnt Kellners Serie mehr noch als der von Sander ein dokumentarisches Moment inne. Der Künstler untergräbt dieses doch zugleich wieder, indem er zwar ein Medium verwendet, dem gemeinhin ein gewisser Realitätsanspruch anhaftet, der aber durch die nachträgliche Bearbeitung dem Bild entzogen wird. Ein in Unschärfe verbleibender Hintergrund und der Entzug von Farbigkeit – hier ebenfalls mehr im Hintergrund als bei den Porträtierten selbst – lenken den Blick zunehmend auf den Menschen, der auch schon bei Sander durch eine nüchterne Bildsprache im Sinne der Neuen Sachlichkeit in den Fokus gerückt wurde.

Ganz klar muss sich bei Kellner jedoch von dem Kunstwerk als Einzelporträt distanziert werden. Seine künstlerische Arbeit lebt vor allem von der Zusammenstellung als Tableau, indem es das Verständnis als ganzheitliches Abbild der Stadt transportiert und mit einer Vergleichbarkeit der Fotografien untereinander spielt. So war es auch bei Kellners Fachwerkhäuser, die in gewisser Weise ebenfalls einen Aspekt der Stadt repräsentieren. In Antlitz der Zeit schreibt Alfred Döblin August Sander ebenfalls eine „vergleichende Photographie“ zu, während Benjamin sein Werk später als „Übungsatlas“ bezeichnet – ein Begriff, der sich nicht nur auf den Akt der Fotografie und die nachträgliche Ordnung derselben, sondern auch auf deren Rezeption beziehen kann. Sowohl Sander, als auch Kellner fordern folglich ein genaues Hinsehen seitens der Betrachtenden ein, betreiben mit der Kamera eine Art Sehschule. So sagte bereits Robert de la Sizeranne 1897 in Bezug auf das Suchen nach einem Motiv durch Fotografen und Fotografinnen, dass Sehen-Können eine große Sache, vielleicht die entscheidende sei. Dies gilt ebenso für die Rezipierenden.

Kellner spielt seit jeher mit dem Sehprozess. Mit der visuell analytischen Synthese – seiner künstlerischen Methode, bei der er Detailaufnahmen auf 35-mm-Film aufnimmt und als Kontaktbögen untereinander montiert – zerlegt er seine Motive zunächst in Einzelteile, bevor er sie auf neue Weise wiederzusammensetzt. Die entstandene Bildabfolge imitiert daraufhin das Wandern des Auges. Während Irina Chmyreva den von ihr geprägten Begriff visuell analytische Synthese nur auf Kellners dekonstruierte, tanzende Architektur anwendet, wie es die Kapellenschulen sind, lässt sie sich zur Grundlage seiner künstlerischen Arbeit stilisieren. Denn auch bei Facetten der Großstadt filtert der Künstler zunächst Einzelpersonen aus der Bevölkerung heraus, um sie anschließend der Masse zurückzuführen und hinter ihr zurücktreten zu lassen, damit das Bild von der Gesellschaft als Summe ihrer Teile entstehen kann.
1994 entwirft der Künstler Thomas Ruff für den Beitrag des Deutschen Pavillon bei der 46. Biennale in Venedig eine Reihe sogenannter Anderen Porträts. Dabei lösen zwei übereinandergelegte Fotografien von einer weiblich und männlich gelesenen Person einen Irritationsmoment im Bild aus, der Betrachtende hinterfragen lässt, was sie sehen. Gleichzeitig produziert er Bilder, die an großformatige Passfotos erinnern und ergründet mit beiden Bilderreihen die Identifizierbarkeit von Personen. Kellner reagiert auf diese Arbeiten mit einer Reihe von Quicksnaps – beinahe verpixelten Bildern, die derart unscharf sind, dass sie die Identität der Porträtierten vollends untergraben. Wie bei Facetten der Großstadt findet auch hier ein Bruch mit der Konvention von Schärfe in der Fotografie statt, wodurch die Abbildhaftigkeit des Mediums und die Repräsentationsfähigkeit der Porträtierten hinterfragt wird. Das Spiel mit der Identifizierbarkeit von Personen zeigt sich bei Kellner aber auch in Aufnahmen seiner ersten Chinareise. Dort fotografierte er 2006 140 zufällig ausgewählte Personen auf der Straße, die nicht manipuliert und als Tableau zusammengestellt auf das soziologische Problem verweisen, dass sich Menschen mit einer anderen ethnischen Zugehörigkeit weniger gut einprägen und auseinanderhalten können. Hier tritt das Individuum folglich völlig hinter der Masse zurück.
Bei Facetten einer Großstadt sucht Kellner einen Mittelweg. Zwar ist der Hintergrund verschwommen, der Habitus, also das Zusammenspiel von Verhalten und Erscheinungsbild sowie die Verbindung aus subjektivem Wesen und gesellschaftlich geprägten Strukturen als Möglichkeit Rückschlüsse auf soziale Herkunft, Gruppenzugehörigkeit und Lebensstil zu ziehen, bleibt sichtbar. Bereits Sander sagte, dass er sich bemühe das Charakteristische, das Leben, einzelner Personen einzufangen. Und auch Dr. Thomas Meyer bestätigt, dass sich Biografie, Umwelt, Gruppenzugehörigkeit und Zeitgeist sowie Formen der Selbstdarstellung, auch durch Mimik, Gestik und Posen, in Sanders Bilder eingeschrieben hätten. Die Einzelporträts haben dadurch durchaus einen individuellen Charakter im Rahmen einer festgesetzten Typologie: Sie entfalten ihr Potenzial aber erst durch die Synthese zu einem gemeinsamen Ganzen. Denn nur als Ganzes lässt sich die Frage nach der Abbildhaftigkeit und Identität beantworten, die doch vornehmlich auf einem Zugehörigkeitsgefühl und kollektivem Bewusstsein beruht.

Nicht selten wird Kunst als Spiegel der Gesellschaft empfunden. Mit Kellners Porträtserie ist diese Annahme Wirklichkeit geworden. Diese Ausstellung hebt sein Gesellschaftsporträt jedoch auf eine Metaebene, indem sich Besuchende in einem Spiegel als Teil der 60 Porträtierten wiederfinden können. Das humoristische Moment wandelt den Ausstellungsraum zu einer Installation, in der sich das eigene Selbst flüchtig buchstäblich widerspiegelt und einen performativen Akt bildet. Der künstlerisch-kuratorische Eingriff und Einbezug der Betrachtenden erinnert an Kellners Arbeit Wenn es denn nur Worte wären, bei der im Tableau Linoldrucke verschiedene Philosophen an der Wand hängen und mittig Platz für eigene Gedanken ist, die an einem Tisch unweit der Kunstwerke formuliert werden können. Der Spiegel dient als Leerstelle, fragt nach der Verortung des Selbst innerhalb der im Raum repräsentierten Gesellschaft, animiert zur Selbstreflexion und ist schlussendlich eine subtile Einladung ein Teil der 1000 Porträts zu werden.
Passend dazu schließe ich mit den Worten von Alfred Döblin aus Antlitz der Zeit: „Dies [sind] meine Hinweise: Wer blickt, wird rasch belehrt werden, besser als durch Vorträge und Theorie, durch diese klaren, schlagkräftigen Bilder und wird von den andern und von sich erfahren.“