Die Art Galerie Siegen präsentiert ab dem 19. Februar 2017:
Vera Becker: in den tiefen
Vernissage: Sonntag, den 19. Februar 2017, um 11 Uhr
Art Galerie, Fürst-Johann-Moritz-Str. 1, 57072 Siegen
Zur Eröffnung spricht Dr. Sabine Heinke, Kunsthistorikerin.
„Die von Vera Becker geschaffenen Bilder geben Zeugnis von ihrer Liebe zur Natur im Sinne des portugiesischen Lyrikers Alberto Caeiro, alias Fernando Pessoa, der sein dichtendes Alter Ego in ´Der Hüter der Herden` sagen lässt:“ Ich bin ein Hirte. Die Herde sind meine Gedanken und meine Gedanken allesamt Sinnesempfindungen.“ Diesen Sinnesempfindungen kann der Betrachter unmittelbar an den zumeist abstrakten, reliefartigen und damit zum Berühren geradezu einladenden Oberflächen ihrer Arbeiten nachspüren. Sie sind fein bis grob strukturiert und entstehen durch die von Becker über viele Jahre entwickelte subtile Technik von Farb- und Wachsschichtungen, wobei sie auf die Verarbeitung natürlicher Pigmente und Gesteinsmehle Wert legt. In die bis zu 50 Farb- und Wachslagen hinein collagiert sie die unterschiedlichsten, durch Anschauung und Berührung ausgewählten Materialien aus der Natur, am Wegesrand Gefundenes oder auch autobiographisch Bedeutsames, zusammen mit Stoffen wie Gaze oder Papier.
Die auf diese Weise isolierten Substanzen finden so einen Ort der Konservierung und Bewahrung – gleichsam wie in archäologischen Bodenschichtungen. Um diese verborgenen Spuren des Lebens sichtbar und offen zu halten, arbeitet sich Becker aber auch immer wieder in die tiefer liegenden Regionen hinunter und zurück, indem sie diese durch Schmirgeln oder durch das Anlösen bestimmter Schichten erneut aufschließt . Durch Tilgung entsteht so eine Art Palimpsest, das den Blick auf die Zeit lenkt, auf Werden und Vergehen und letztlich auf die Metamorphose allen Lebens.“ Dr. Sabine Heinke
Vera Becker, geboren 1952, lebt und arbeitet in Kreuztal.
Wir laden Sie herzlich ein zur Ausstellung
Vera Becker: in den tiefen
Malerei
19.Februar bis 25. März 2017
Vernissage: Sonntag, 19. Februar2017, 11 Uhr
Zur Eröffnung sprach Dr. Sabine Heinke
Vera Becker: Eröffnung der Ausstellung 19. Februar 2017
in den tiefen
Liebe Vera Becker, liebe Helga und Thomas Kellner, meine Damen und Herren!
Etwas ungewöhnlich für die Einführung in eine Ausstellung mit Bildern möchte ich gern mit einem Gedicht, bzw. einigen Zeilen eines Gedichts beginnen. Ich will Ihnen auch gleich sagen, warum: Weil das dafür ausgewählte Gedicht nämlich genau das auszudrücken scheint, was die künstlerischen Arbeiten Vera Beckers ausmacht. Wenn dann im Anschluss daran noch ein paar Zitate aus der begleitenden Interpretation hinzugefügt werden, bräuchte es eigentlich kaum noch weitere Erläuterungen. Weil die nämlich genau das formulieren, was Becker um- und in ihrer Werkstatt treibt. Hier aber nun erst einmal das Gedicht von Alberto Caeiro. Ihnen ist natürlich bekannt, dass
niemand anderer dahinter steckt als der portugiesische Autor und Lyriker Fernando Pessoa, der Zeit seines Lebens unter vielen Synonymen schrieb und veröffentlichte. Das Gedicht trägt den Titel ´Der Hüter der Herden, IX` – hier also einige Zeilen daraus:
Ich bin ein Hirte.
Die Herde sind meine Gedanken
Und meine Gedanken allesamt Sinnesempfindungen.
Ich denke mit Augen und Ohren
Und Händen und Füßen
Und Nase und Mund.
„Das klingt einfach und schlicht“, wie die Kulturwissenschaftlerin Marleen Stoessel in ihrer Besprechung dazu in der bekannten Anthologie der FAZ vor einigen Monaten meinte. Weiter im Text nur wenig später aber nennt sie Caeiro bereits einen „Zenmeister…., einen buddhistischen Weisen, der die Dinge sieht, wie sie sind: frei von Vorurteilen, geheimnislos, und sie doch in ein ´Fatum` gebettet weiß, in ein Ewig-Vergängliches, das alles mit einem elegischen Firnis überzieht.“ Das zeuge, so die Autorin weiter, von einem „Einverständnis mit dem Sosein von Welt und Natur“ und von „einer allem Wollen und Denken abschwörenden Kontemplation.“ Das mache …. „Eine (scheinbare) Denk- oder Gedanken-Leere (aus), aus welcher der Reichtum der Sinnesempfindungen quillt.“ Damit folgt Stoessel dem Credo des Dichters Caeiro, der durch Pessoas Mund wissen ließ: „Ich habe keine Philosophie, ich habe Sinne.“ (Alberto Caeiro: Der Hüter der Herden, IX ; in: Marleen Stoessel: Die stillen Ekstasen der Kontemplation; FAZ-Feuilleton vom 3.12.2016.)
Nach dieser Vorrede kann ich nur noch mein Möglichstes tun, um das soeben Gehörte auf die künstlerische Arbeit Vera Beckers zu übertragen. Dabei will ich versuchen, die oben aufgestellte These zu unterfüttern und Ihnen das hier ausgestellte Werk in diesem Sinne näher zu bringen.
Vera Becker wurde 1952 in Siegen geboren und lebt heute in Kreuztal. Sie ist Autodidaktin, die sich in zahlreichen Kursen bei Künstlern in der Region, aber auch in Hamburg, Köln, Berlin und Düsseldorf weitergebildet hat. Ab dem Jahr 2000 etwa beschäftigt sie sich mit einfacher Acryl- oder Ölmalerei, geht aber schon bald zum Lasieren über. Da das Handwerkliche sie besonders reizt, beginnt sie mit Collagen aus Zeitungspapieren oder Buchseiten zu experimentieren, Erden und Gesteinsmehle zu verwenden. Um ihre Kenntnisse zu vervollkommnen, besucht sie Kurse in der Farbmühle von Georg Friedrich Kremer in Aichstätten, der ihr Wissen um die Eigenschaften der unterschiedlichen Pigmente vergrößert und sie darin bestärkt, sich weiterhin vornehmlich mit ihnen zu beschäftigen. Außerdem lernt sie in dieser Zeit über ihre Tochter, eine Kunstglaserin, die Malerin Carola Czempik kennen, die genau so arbeitet, wie sie es selbst als für sich richtig empfindet. Bei ihr in Berlin belegt
sie Einzelkurse und nimmt auch heute noch an Weiterbildungen teil. Bisher hatte sie 5 Einzelund mehrere Gruppenausstellungen in Dortmund und im Siegerland.
Aber zurück zu dem anfänglich zitierten Hirtengedicht: Anders als Caeiro macht Vera Becker aus ihren Sinnesempfindungen eben keine lyrischen Verse, sondern Malerei. Anhand dieser von Präsenz und Eindrücklichkeit geprägten bildlichen Äußerungen sollte es eigentlich jedem Betrachter nach einer gewissen Phase der Annäherung gelingen, ihren Impressionen nachzuspüren, was im Folgenden versucht werden soll.
Was sich bei der Betrachtung ihrer Arbeiten prima vista präsentiert, ist eine meist auf wenige Töne reduzierte, wenn nicht gar annähernd monochrome Farbfläche. Aus bestimmten Gründen, auf die gleich näher eingegangen wird, ist diese Farbfläche mehr oder weniger stark strukturiert. Farbe, das wohl älteste Material in der Kunst überhaupt, mischt Becker meist aus in der bereits genannten Manufaktur gefertigten Pigmenten oder Gesteinsmehlen selbst an. Zu Puder zerriebener Marmor, Granit oder Schiefer führt zu unbunten Tönen, die in ihrem physischen Sosein selbst Teile des Bildes ausmachen. Aber natürlich beschränkt sie sich nicht allein auf zurückhaltende Töne, sondern benutzt auch kräftiges, energiegeladenes Rot oder klares, kaltes Blau, um nur einige Farben zu nennen, sowie Blattgold oder Silber, wobei sie den Oxidationsprozess in ihre Überlegungen einbezieht.
Tritt man näher an die Bildträger heran, fällt auf, dass die Arbeiten Vera Beckers nicht allein vom gewählten Kolorit bestimmt werden. Dort gibt es nämlich die gerade erwähnten Strukturen, die aber nicht von der meist flüssig angemischten Farbe gebildet sein können. Bei diesen Strukturen oder, anders ausgedrückt, bei diesen formgebenden Stoffen handelt es sich oft um etwas, das Vera Becker bei ihren langen Wanderungen durch die Natur vom Weges and mitnimmt, um es später ihren Bildern wortwörtlich einzuverleiben. Dinge also, die sie ´mit Augen und Ohren, Händen und Füßen, Nase und Mund`, wie Caeiro sagt, als interessant für ihre Arbeit, als beachtens- und bewahrenswert wahrnimmt. Bis zu ihrer Verarbeitung verwahrt sie ihre meist kunstlosen, aber ästhetisch ansprechenden Fundstücke sorgfältig, d.h. dass sie sie möglicherweise auf die ein oder andere Art sogar konservieren muss, um sie für den später erfolgenden Prozess der Verarbeitung im Bild haltbar zu machen.
Zu den gerade erwähnten kommen weitere Materialien hinzu, die auch etwas mit der eigenen Biographie zu tun haben können und deshalb – als authentische Belegstücke quasi dokumentarisch – in die Bilder hineingearbeitet und – so wie jene – aus ihrem angestammten Kontext herausgehoben werden.
Da sie eine Sammlerin sei, könne sie einfach alles gebrauchen: Am Strand Muscheln und Hölzer, hier in unseren Breiten Pflanzen, die sie sorgfältig trocknet, Blumen und Gräser,Blätter und Moose, Früchte und Samen. Hinzu kommen aber auch z.B. Kokons von Seidenraupen, wobei sie die bereits abgeernteten, nahezu leeren Hüllen im Handel erwirbt, sie einweicht, um sie, auseinanderge- und verzogen, ihren Leinwänden, Tafeln oder papiernen Bildträgern einzuverleiben. Dabei entwickeln die Raupen im Innern ihrer Nester einen infernalischen Gestank. Nachdem nämlich die Kokons zur Gewinnung der kostbaren Seide so lange gekocht worden sind, bis sich der Faden abhaspeln lässt, bleiben dann schließlich auf der letzten Stufe der Vermarktung – als Beifang sozusagen – nur noch die Überreste dieser Ausweidung, genauer gesagt ein kümmerlicher Restkokon mit den kleinen, olfaktorisch auf sich aufmerksam machenden Leichnamen.
Auch viele der anderen Materialien besprüht Becker kurz vor ihrer endgültigen Verarbeitung mit Wasser, um sie wieder weich und formbar zu machen, und deckt sie dann zu Teilen mit feinsten, handgeschöpften Papieren aus Japan oder Gazen und/ oder Mullschichten ab. Mit Hilfe eines Bindemittels werden sie dann auf den horizontal liegenden Bildträger aufgebracht, wobei so die bereits genannten gerüstartigen Lineamente und Strukturen auf der zunächst planen Bildoberfläche entstehen. Wenn sie dann die zu wässrigen Lasuren verarbeiteten Pigmente in einem nächsten Arbeitsschritt auf das genannte Gerüst in Schüttungen aufbringt und mit breitem Pinsel verstreicht, lagern sich im langen Prozess der Trocknung feinste ungelöste Partikel an Kanten und Graten an und bilden dort dem Verdünnungsgrad entsprechende kräftigere oder weniger satte Farbareale.
Die Formen in den Bildern ergeben sich nicht mehr aus dem Kolorit, durch eine bis zur Verwechslung mit der real existierenden Natur mimetisch genaue Abbildung des Gegenständlichen, sondern als Resultat der Materialeigenschaften von verarbeiteten Farben und Stoffen, also deren physischer Beschaffenheit. Dazu gehört auch der Schelllack, der in seiner Rohform in kleinsten Plättchen vorliegt. Wenn sie diese Plättchen auflöst und auf ihre Leinwände gibt, schrumpfen und reißen sie, und es kommt zu einem gewollten Verrottungsprozess und damit wiederum zu besonderen Effekten.
Zwischen zahlreichen Lasurschichten, die am Ende zu schimmernd wechselnden Farbsensationen aufscheinen können, collagiert Vera Becker weitere Materialien, wobei es bei diesem experimentellen Verfahren immer wieder mal zu unerwarteten Reaktionen kommt, die eher zufällig am entstehenden Bild mitarbeiten. Durch die oben bereits genannten Schrumpfungen und dergleichen kann es zu Rissbildungen kommen, bei Eingeweichtem zu Faltungen und damit zu expansiven Ausformungen in den Raum hinein bis hin zu einer reliefartigen Bildoberfläche mit minimaler Schattenwirkung. So bestimmen die von ihr eingesetzten Materialien den Charakter des jeweiligen Bildaufbaus und führen in manchmal
ungeplanter Akzentuierung bestimmter Bildteile zu einer gewissen Hierarchisierung der gesamten Komposition.
Um jedoch die Bildregie weitestgehend in den eigenen Händen zu behalten, zieht Becker zwischen den Farblagen Schichten aus geschmolzenem Bienenwachs ein, die ihr durch das An- und Ablösen der unterschiedlichen Materialien eine Korrektur ermöglichen, wenn die Ergebnisse nicht mit ihren Erwartungen übereinstimmen. Was sie ´Häutung` nennt, könnte auch als Wandlung oder Metamorphose bezeichnet werden. Um zu einer weit vorher entstandenen, unter der aktuellen liegenden Ebene hinabzusteigen, reißt und kratzt sie bewusst Schichtungen wieder auf oder schmirgelt sie weg. Dieses Aufkratzen oder Wegschmirgeln, dieses ans Licht Zurückholen geschieht aus Gründen, die nur sie selbst erkennen, einschätzen und bewerten kann. Während die verschiedenen Schichten sonst eher ver- bzw. zudecken und verhüllen, wird an derartigen Stellen in Form von Collage und Décollage Abgelagertes bis zur endgültigen Fassung immer wieder durchgearbeitet und dabei natürlich auch variiert. So bleiben letztlich nur Spuren von Gewesenem wie in einem Palimpsest stehen. An diesen Spuren entlang wird der Blick des Betrachters in die Tiefe gelenkt, die sich dann wie ein Memento mori als offene Wunde
präsentiert.
Die formlos aufgebrachten Farben erinnern zusammen mit den in das Bildfeld hineincollagierten Materialien an das Informel und damit an einen Begriff der Zu- und Einordnung einer Malweise, die in den 50er Jahren von Michel Tapié gebildet worden ist und auf Maler wie z.B. Emil Schumacher Anwendung fand. Dieser Künstler, der bekanntermaßen in seinen Bildern wütete, hat in seinen Sieben Aphorismen die Zerstörung als die ´äußerste Form, Widerstand zu brechen` bezeichnet, als ´ einen primitiven Gestus der Verzweiflung und der Lust`. Ihm ging es nicht darum, einen Zustand der Heilung herzustellen, sondern den Zerstörungsakt dem Bilde einverleiben`.(Emil Schumacher: Sieben Aphorismen; zitiert nach Ausstellungskatalog 1997, S. 145) Auch wenn die von Becker aktiv herbeigeführten Aus- und Aufbrüche nicht so radikal sind wie bei ihm, geben doch auch sie Zeugnis von Gefühlen wie Wut und Frustration, von dem, was sie selbst als das bezeichnet, was sie an ihre Grenzen führt.
In einem dennoch von Geduld und Langmut bestimmten, von Dichtung und Musik inspirierten Schaffensprozess entwickelt Becker so ihre Bildräume. Ihre Art der Farbgebung und ihr Hineinagieren in scheinbar fertige Prozesse lassen dabei bizarre, aber auch zart strukturierte, nach beharrlicher und sensibler Zuwendung verlangende Bildlandschaften entstehen. Wenn sie auch sagt, dass ihre Arbeiten auf nichts als sich selbst verweisen, soll hier doch zusammenfassend der Versuch einer Deutung unternommen werden. Das Emotionale als Ausdruck inneren Erlebens ist das auslösende Moment von Beckers Schaffen. Ihre sinnlich-haptischen und visuell ansprechenden Arbeiten bilden in ihrem Spannungsverhältnis von Ordnung und Chaos, Materialität und Transparenz Metaphern für das Vergessen und Erinnern als gleichzeitiger Beleg für das Vergehen von Zeit. Anders als in den Müllbildern der Arte povera der frühen 60er Jahre finden in Beckers Arbeiten v.a. ästhetisch schöne und edle Dinge Verwendung. Wie um die wenn auch
vielleicht nur persönlich empfundene Kostbarkeit der Trouvaillen zu betonen, sichert sie deren Spuren bei gleichzeitiger Verschleierung in den eingehegten Schutzräumen ihrer Bilder, indem sie sie dort archiviert und inszeniert. Lassen Sie mich Bezug nehmen auf das eingangs über die ´Dinge` bei Caeiros Gesagte. Da sprach Marleen Stoessel von derem ´Fatum`, also ihrem Schicksal. Auf Becker umgemünzt könnte das heißen, dass sie selbige aus ihren profanen Zusammenhängen herauslöst und sie durch die Art der Bewahrung mit Bedeutung auflädt, ja sie bei gleichzeitiger Metamorphosierung nobilitiert. In dieser Zuwendung zu Flora und Fauna, ihrer Liebe zu Wald und Feld quasi als zeitlose Reminiszenz an die deutsche
Romantik bzw. als Verweis auf eine pantheistische Weltanschauung öffnet sie ihre Bildräume wie einen Reliquienschrein für die auserwählten Schätze. Umso schmerzhafter müssen auch dem Betrachter die Blessuren erscheinen, die ihm im Akt der Zerstörung nicht nur eine hilflos ausgelieferte Verletzlichkeit offenbaren, sondern ihn diese als Gleichnis für das Leben selbstbegreifen lassen.
Ich danke Ihnen!
Vielen Dank an so viele Gäste am Sonntagmorgen zur Eröffnung mit Vera Becker. Sie haben uns allen eine riesen Freude gemacht. Danke!
Pressestimmen
Siegener Zeitung
Siegerlandkurier