Hermann Kurz: Ohne Titel (von Siegen in die Welt)

Hermann Kurz: Ohne Titel

Hermann Kurz – ohne Titel (von Siegen in die Welt)
23.April bis 10. Juni 2023

Der in Siegen-Eiserfeld geborene Hermann Kurz (1941-2006) verfolgte in seinem künstlerischen Schaffen einen reduzierten Mal- und Zeichenstil, der völlig liniendominiert anmutet. Mit großen Gesten zeichnete und malte der Künstler, mal mit dünner Stiftspitze, mal mit dickem Pinselstrich, geschwungene Linien auf seinen Malgrund. Die Linie ist das bildgebende Element seiner Arbeiten und zieht sich als solches durch sein gesamtes Œuvre.
Neben Landschaften, Stillleben und geometrisch-abstrakten Bildkompositionen liegt auf dem Porträt ein besonderer Fokus. Die Menschendarstellungen von Kurz sind zumeist in einer Ganzkörperansicht wiedergegeben, wobei sich der Abstraktionsgrad und die Detailtreue nach dem gewählten Malwerkzeug bemessen. So erscheinen seine Zeichnungen oft kleinteiliger und im Rahmen seiner abstrahierten Maltechnik geradezu naturalistischer als seine großformatigen Gemälde.
Auch Körpersilhouetten werden bei Kurz von der Linie bestimmt. Dass er einen lebendigen Körper abbildet, dessen Masse verformbar ist, wird nicht nur durch die dargestellten Posen und angedeuteten Bewegungen deutlich, sondern vor allem durch die Beschaffenheit der Linie selbst. Diese führte Kurz mit dynamischen Bewegungen aus, womit die Materialität und Form des menschlichen Körpers noch einmal verstärkt wird. Und auch Werke, die keine abstrahierten Figuren zeigen, ahmen die Bewegung und organische Form des Körpers nach. So gibt es fast ausnahmslos keine geraden Striche in seinen Werken. Stattdessen zeigt der Künstler Bewegungsmomente, die sowohl im Motiv zu sehen als auch durch die impulsive Linienführung im gestalterischen Prozess nachzuverfolgen sind. Er bewegt sich dabei zwischen den Polen der Abstraktion und Figuration, lässt der Linie freien Lauf und findet so zu dem formenreichen und formgebenden Charakter seiner Bilder.

Hermann Kurz – ohne Titel (von Siegen in die Welt)
23.April bis 10. Juni 2023
Eröffnung am Sonntag 23. April um 11 Uhr
Zur Eröffnung sprechen Chiara Manon Bohn
und Matthias Kurz.

Eröffnungsrede: Hermann Kurz, 24.04.2023, Chiara Manon Bohn

Punkt und Linie zu Fläche, so nannte Kandinsky 1926 seine Schrift, die im Rahmen der Bauhausbücher erschien. Bevor Kandinsky in den 1920ern nach Deutschland zurückkehrte und als Lehrer ans Bauhaus kam und bevor er Kunstwerke aus geometrischen Formen, die er als kühle Abstraktionen betitelte, schuf, entwickelte er Malereien, die einem noch ganz anderen Abstraktionsgrad entsprachen. Später wird Kandinsky behaupten 1910 sein erstes abstraktes Bild gemalt zu haben und versucht sich vehement als Erfinder der abstrakten Malerei zu positionieren. Und all das in einer Zeit, in der auch Mondrian, Malewitsch, Klee und Co auf den Plan traten und besonders Hilma af Klint 1906 ihr erstes abstraktes Bild produzierte.
Im Allgemeinen wird Abstraktion als eine von der Natur losgelöste Darstellung betrachtet, eine Emanzipation von der Abbildhaftigkeit, kein Nachahmen. Denkbar sind hier Mondrians geometrisch strukturierten Werke oder Malewitschs Schwarzes Quadrat, die keinerlei Bezug zu einem natürlichen Vorbild zulassen. Allerdings ist Abstrakte Kunst, laut Nils Büttner, „erst dort möglich, wo sie als Medium der Produktion von Wirklichkeit verstanden und eingesetzt wird.“ Folglich muss etwas Gegenständliches, etwas Natürliches künstlerisch abstrahiert werden, um als abstrakt gelten zu können. Es geht um ein Abwenden vom Naturalismus, ein Vereinfachen der Darstellungsweise, nicht zwingend um die vollständige Auflösung von inhaltlichen Bezügen. Während Malewitsch Kandinskys Kunst also kritisiert, weil diese „noch zu sehr an das Leben und damit an die Realität“ erinnert, fügen sich seine Arbeiten, vor allem aus den 1910er Jahren, gerade deswegen nahtlos in den Abstraktions- und Reduktionsprozess der natürlichen Darstellung ein.
Im Vergleich zu seinen frühen Landschaftsbildern werden Kandinskys Bilder zunehmend abstrakter. Umrisse von Figuren oder Gesichtern werden nur noch angedeutet, Vorder- und Hintergrund scheinen ineinander zu verschwimmen, eine geschwungene Linienführung zieht sich durch seine Arbeiten. Einwandfrei ist zu diesem Zeitpunkt trotz der Abstraktion noch eine gewisse Gegenständlichkeit auszumachen. Formale, bildnerische Elemente werden verfremdet, der Inhalt bleibt jedoch erkennbar. Anders bei seinen späteren Arbeiten, bei denen er geometrische Formen und Farben kombiniert und sich dem Verhältnis von Punkt, Linie und Fläche sowie den drei Grundformen Dreieck, Quadrat und Kreis sowie deren Farbzuschreibung widmet.
Mit der Formfrage beschäftigt sich auf Hermann Kurz in seinen zahlreichen und durchaus verschieden anmutenden Arbeiten. Mal fertigt er feine figürliche Zeichnungen oder flächige, silhouettenhafte Malereien, mal geometrische oder organische Formen mit Farbakzentuierungen. Kurz bewegt sich mit seinen Kunstwerken zwischen den Polen der Figuration und Nonfiguration. Er reizt die Grenzen der Abstraktion aus. Während bei Kandinsky die einzelnen Schaffensperioden visuell und zeitlich voneinander zu trennen sind, wirkt das Oeuvre von Kurz wie ein zusammengehöriges Konglomerat. So tauchen die geschwungenen Linien, die die Umrisse seiner Figuren bilden, ebenso in den gegenstandlosen Bildern auf, die organisch geformte Papierzuschnitte zu einer Collage zusammengefügt zeigen. In seinem künstlerischen Schaffen verfolgt Kurz einen reduzierten Mal- und Zeichenstil, der völlig liniendominiert anmutet.
Oftmals nimmt die Linie dabei eine doppelte Funktion ein. Sie ist nicht bloß Werkzeug zur Umrandung und Formgebung, sondern gleichzeitig auch Fläche. So tritt auch hier das Verhältnis von Linie zu Fläche, wenn auch ohne Punkt, wie im Titel Kandinskys Textbeitrags, zu Tage. Und auch farblich sind bei Kurz vermehrt die Grundfarben rot und blau auszumachen, die zusammen mit gelb nicht nur das Bauhaus repräsentieren, sondern Teil Kandinskys Suche nach der Verbindung von Form und Farbe sind. 1923 führte er unter seinen Schülern eine Umfrage durch, bei der diese die drei Grundfarben wiederum drei verschiedenen Formen zuordnen sollten. Als Ergebnis ergab sich eine Zugehörigkeit von gelb zu Dreieck, rot zu Quadrat sowie blau zu Kreis. Ein Vorgehen, das Kurz in seinen Bildern mit geometrischen Formen nicht übernimmt.
Statt wie Kandinsky Formen über Farben zu definieren, setzt Kurz auf die Linie. Sie ist sein Lösungsversuch für die Formfrage, sie diktiert die Form und den Feinheitsgrad des Motivs. Sie ist das bildgebende Element und Mittel, das sich durch sein gesamtes Oeuvre zieht. Dabei ist der Duktus seines Malwerkzeugs entscheidend. Seine figürlichen Zeichnungen werden durch eine dünne Stiftspitze bestimmt, die viel Platz für mehrere Linien, Schraffuren und kleine Details lässt. Die dicken Pinselstriche wiederum bilden, wie bereits erwähnt, einen doppelten Sinn als Umrisslinie und Fläche. Gleichzeitig legen sie den Malprozess offen, geben an, wo der Pinsel angesetzt und wie viel Farbe für einen Strich verwendet wurde. Gerade die großen Gesten, mit denen der Künstler malte, und die Bewegungen von Handgelenk und Pinsel sind im Bild dokumentiert und gut nachzuvollziehen. Die Beschaffenheit der Linie, genauer gesagt des Malwerkzeugs, das die Linie erzeugt, gibt folglich auch den Abstraktionsgrad vor. So erscheinen die Zeichnungen von Kurz oft kleinteiliger und im Rahmen seiner abstrahierten Maltechnik geradezu naturalistischer als seine großformatigen Gemälde.
Die Werke des Künstlers zeigen darüber hinaus, wie die Linienführung zur Plastizität des Motivs beitragen kann. Während bei einer Arbeit mit eng aneinander liegenden geometrischen Formen, die dünn umrandet sind, durch die Linie selbst keine Räumlichkeit entsteht und lediglich die Farbgebung simuliert, dass die Formen auf unterschiedlichen Ebenen aufgetragen wurden, trägt die Pinselbewegung bei den abstrahierten Körpersilhouetten zu deren stofflichen Wirkung bei. Denn, dass Kurz einen lebendigen Körper abbildet, dessen Masse verformbar ist, wird nicht nur durch die dargestellten Posen und angedeuteten Bewegungen der Figuren deutlich, sondern vor allem durch die Beschaffenheit der Linie selbst. Diese führte der Künstler mit dynamischen Bewegungen aus, womit die Materialität und Form des menschlichen Körpers noch einmal verstärkt wird. Bei den Collagen funktioniert dies nochmal anders. Zwar übernimmt das Schneidewerkzeug die Funktion des Pinsels und schafft dadurch Parallelen zu silhouettenhaften Formen der anderen Bilder. Vornehmlich ist aber das minimale Hervorstehen der bunt bemalten Ausschnitte auf dem bräunlich-orangenen Untergrund ein Faktor für Materialität.
In den Werken von Hermann Kurz gibt es fast ausnahmslos keine geraden Striche. Stattdessen zeigt der Künstler Bewegungsmomente, die sowohl im Motiv zu sehen als auch durch die impulsive Linienführung im gestalterischen Prozess nachzuverfolgen sind. Er bewegt sich dabei innerhalb der Grenzen der Abstraktion und bricht mit der Gegenständlichkeit ohne sie gänzlich aufzugeben. Er lässt der Linie freien Lauf und findet so zu dem formenreichen und formgebenden Charakter seiner Bilder. Denn auch, wenn seine Bilder keine abstrahierten Figuren zeigen, ahmen sie die Bewegung und organische Form des Körpers nach. Bei Kurz ist nicht die Frage wie das Verhältnis von Punkt, Linie und Fläche aussehen könnte, denn es ist die Linie, die in seinen Werken oftmals Punkt und Fläche ersetzt. Sie schlängelt sich chimärenhaft durchs Bild, ist mal Umriss, mal Fläche, mal leicht figurativ, mal vollends gegenstandslos. Sie, die Linie, ist das Bild.